Nur ein Stempel

2. Mai 2023 – Von Saint Jean Pied de Port nach Roncesvalles

Das australische Paar in meinem Vier-Bett-Zimmer hat letzte Nacht um die Wette geschnarcht und die Französin unter mir hat sich so heftig hin und her gewälzt, dass ich im oberen Stock des „Bunk-Bed“ (jetzt weiß ich wenigstens, was Stockbett auf englisch heißt) zeitweise ein Erdbeben vermutet hatte.
So beginne ich meine Pilgerreise mit einem leichten Schlafdefizit.

Pilgerbüro St.-Jean-Pied-De-Port

    Das Frühstück hatte ich am Abend vorher schon für sieben Uhr vorbestellt. Um acht Uhr bin ich im Pilgerbüro und lasse mir von Almuth aus Deutschland meinen ersten Stempel in den Pilgerpass, den Credencial, drücken. Nach einigen mehr oder weniger wichtigen Informationen zum Camino fragt Almuth:
    „Wie weit wollen Sie heute laufen?“
    „Bis Roncesvalles.“ antworte ich.
    „Haben Sie da ein Bett reserviert?“
    Ich bin verwirrt. Eigentlich hatte ich mir das so vorgestellt, dass ich laufe, laufe, laufe und wenn ich nicht mehr kann, dann suche ich mir eine Herberge und bekomme ein Bett.
    Ich frage also unsicher: „Äh, nein, hätte ich das tun müssen?“
    „Nun ja“, sagt Almuth und rückt sich ihre Brille zurecht, bevor Sie mich über deren schmalen Rand hinweg ansieht, die Augenbrauen hochzieht und fortfährt: „Das Kloster Roncesvalles hat zweihundert vierzig Betten. Heute Morgen sind hier in Saint Jean aber schon über vierhundert Pilger los gelaufen.“
    Na toll. Ich atme tief durch.
    „Nehmen Sie sich noch eine Muschel, das Erkennungszeichen der Jakobspilger“, sagt Almuth und deutet auf die Wand hinter mir, an der dutzende Jakobsmuscheln an groben Schnüren hängen.
    „Buen Camino“, verabschiedet sie mich.

    Ich verlasse das Pilgerbüro und wende mich in Richtung Startpunkt des Camino Francés. Fast biege ich schon auf den ersten hundert Metern falsch ab, bemerke aber noch rechtzeitig, dass der Muschelwegweiser mit einem kleinen Fahrrad versehen ist und die Richtung für die Pilger anzeigt, die auf dem Drahtesel unterwegs sind. Gut, zu meiner Verteidigung: Sowohl in dem amerikanischen Film „Dein Weg“ als auch in der Verfilmung von Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ nehmen die Protagonisten diesen Weg. Ich nehme an, weil er so idyllisch an dem Flüsschen entlang führt, macht sich das sicher gut auf der Kino-Leinwand. Ich korrigiere meinen Irrtum und mache meine ersten Schritte als Pilger in Richtung Pyrenäen.

    Etwas beunruhigt von Almuths durchaus wichtiger Information, dass ich womöglich im Kloster Roncesvalles keinen Schlafplatz mehr bekommen könnte, versuche ich mehrfach, dort anzurufen. Aber es geht schon niemand mehr ans Telefon. Sicher bin ich nicht der Einzige, der das versucht.
    Rückblickend hätte ich mit dieser Erkenntnis so was von auf die Tube drücken müssen, damit ich noch ein freies Bett irgendwo in der Nähe ergattere, aber das kommt mir zu dem Zeitpunkt nicht in den Sinn.
    Bei der Herberge Orisson, erst 8km von Saint Jean entfernt, aber schon mit 680 Höhenmetern in den Beinen, gönne ich mir eine wohltuende Pause. Immer, wenn ich beim Anstieg denke, ich habe meinen oder wenigstens einen Rhythmus gefunden, wartet hinter einer Biegung eine neue Challenge. Es geht wirklich steil bergauf, aber man wird mit einer phänomenalen Aussicht belohnt.
    Nach etwa acht wirklich anstrengenden Stunden, in denen ich mit Pausen fast 26km zurückgelegt und insgesamt 1.392 Höhenmeter überwunden habe, erreiche ich das Kloster Roncesvalles.

    Kloster Roncesvalles

    Als ich durch das Tor gehe, kommt mir ein Hospitalero entgegen, breitet lächelnd die Arme aus und ruft: „Welcome!“ – dann lässt er die Arme fallen – „But we are full“. Im gleichen Moment nimmt sein Gesicht einen bedauernden Ausdruck an.
    Na gut, denke ich, muss ich mich eben woanders um ein Bett kümmern. Darauf hatte ich mich ja gedanklich schon eingestellt.
    An einer Ecke stehen einige Pilger, die bereits versuchen, mit ihren Handys ein Taxi in den nächsten Ort zu organisieren. Vor einer Tür weiter rechts windet sich eine etwa zwanzig Meter lange Pilger-Schlange entlang einer Wand in der Abendsonne, die offenbar darauf warten, ein Bett zugewiesen zu bekommen. Ob die alle reserviert haben?
    Ich kann mich jetzt zu den Taxipilgern gesellen, oder auf eigene Faust weiterziehen, um vielleicht im nächsten Dorf noch ein Bett zu bekommen.
    Aber halt; wenn ich schon mal hier bin, dann will ich doch wenigstens einen Stempel aus Roncesvalles in meinem Pilgerpass haben.

    Ich wende mich nochmal an den Hospitalero und gebe ihm zu verstehen, dass ich, wenn ich schon nicht hier schlafen kann, wenigstens gerne einen Stempel vom Kloster in meinem Pilgerpass hätte.
    Er versteht, verschwindet kurz durch die erwähnte Tür, kommt gleich darauf wieder zurück und sagt:
    „Stell‘ Dich da in die Tür und mach‘ eine zweite Reihe auf. Ich hab das abgesprochen. Da bekommst Du dann Deinen Stempel.“
    Ich bedanke mich und gehe, wie der Hospitalero gesagt hat, direkt zu der Tür, vorbei an der Schlange der erschöpft wartenden Pilger. In der Tür steht eine Frau mit Sonnenbrille, türkisem Rucksack und pinker Basecap. Auf englisch spreche ich sie an.
    „Entschuldigung, ich weiß, die Herberge ist voll, aber der Hospitalero hat mir gesagt, ich könne mir wenigstens einen Stempel für meinen Pilgerpass holen. Darf ich kurz vor?“
    Sie lächelt, nickt und lässt mich durch. Ich muss noch kurz warten, bis die zuständige Hospitalera den bereits am Tisch stehenden Pilger abgefertigt hat. Währenddessen höre ich die Frau, die mich gerade vorgelassen hat, hinter mir deutsch sprechen.
    „Dann können wir uns ja auch auf deutsch unterhalten“, sage ich lachend und wir wechseln ein paar Worte. Sie hat ein Bett reserviert und wundert sich, dass ich mich nur für einen Stempel anstelle. „Wenn ich schon mal hier bin, dann will ich auch einen Stempel“, antworte ich.
    Als ich an der Reihe bin, wiederhole ich wahrheitsgemäß mein Anliegen, das mich ohne Umwege und Wartezeit vor den Schreibtisch der Hospitalera gebracht hat: „Hallo, ich weiß, die Herberge ist voll, aber ich hätte gerne einen Stempel für meinen Pilgerausweis.“
    „Schlafen wollen Sie nicht hier?“, brummt sie, ohne von Ihren Papieren auf zu schauen.
    Ich bin etwas überrumpelt.
    „Das würde ich, aber die Herberge ist ja voll“, erwidere ich.
    Sie sieht sich auf ihrem Schreibtisch um, nestelt in den Papieren, drückt einen Stempel in meinen Credencial, blickt kurz auf und gibt mir eine farbige Nummer.
    Verblüfft, mit offenem Mund aber ohne Widerrede nehme ich das mir angebotene, gelbe Plättchen mit der Nummer entgegen.
    „Ich glaube, jetzt hast du ein Bett“, höre ich leise die Stimme der Mitpilgerin hinter mir nah an meinem Ohr.

    Ihr Name ist Silke.

    Kommentare sind geschlossen.